Wann ist ein Unternehmen demokratisch?

Stimmabgabe

Die Frage, die so simpel klingt, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ehrlicherweise muss ich gestehen: Im Rahmen meines Buches “Alle Macht für niemand.” bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, diese Frage zu beantworten. Auf diese Lücke machte mich mein Kollege Bernd Geropp aufmerksam, der mit mir ein Podcast über Unternehmensdemokratie produzierte, das am 09. September veröffentlich werden wird. Also wird es Zeit, dass bislang Versäumte nachzuholen.

Dimensionen der Unternehmensdemokratie

Im vierten Kapitel des Buches skizziere ich eine Art Landkarte der Unternehmensdemokratie, um den bislang stumpfen Begriff zu schärfen und klarer zu machen. Dazu habe ich den Begriff Unternehmensdemokratie von anderen scheinbar gleichen oder sehr ähnlichen Begriffen abgegrenzt und darüber hinaus drei zentrale Dimensionen von Unternehmensdemokratie definiert:

  1. Partizipationsgrad: “… meint die grundsätzliche Frage, inwieweit Partizipation und damit Mit- oder sogar Selbstbestimmung ausgeübt wird.” (Zeuch, A. (2015): Alle Macht für niemand: 63)
  2. Partizipationsreichweite: Diese Dimension beschreibt den “Grad der Mit- und Selbstbestimmung auf zwei Ebenen …: Die Zeitachse mit kurz-, mittel- und langfristigen Entscheidungen sowie die Bedeutungsachse mit nicht existenziellen, das Wohl des Unternehmens nachhaltig beeinflussenden und existenziellen Entscheidungen.” (a.a.O.: 64)
  3. Partizipationsfrequenz: “Wie kontinuierlich (werden) die jeweiligen Partizipationsgrade und -reichweiten umgesetzt?” (a.a.O.: 65)

Alle drei Dimensionen sind als Kontinuum angelegt, gewissermaßen von völlig undemokratisch bis maximal demokratisch. Beim Partizipationsgrad reicht dieses Kontinuum exemplarisch von keinerlei Mitbestimmung bis zur reinen Form der Selbstbestimmung. Daraus folgt, dass es bezüglich dieser Dimensionen einen Mindestanspruch gibt, um von einer sehr schwach bis sehr stark ausgeprägten Unternehmensdemokratie reden zu können:

Bezüglich des Partizipationsgrades bedeutet dies, dass es zumindest in einigen Bereichen des Unternehmens Mitbestimmung geben muss. Die Methode des konsultativen Einzelentscheids reicht indes nicht, sofern immer nur formal-fixierte Führungskräfte die MitarbeiterInnen konsultieren. Wenn jedoch die Führungspositionen zum Beispiel durch eine Führungskräftewahl[1], rollierende oder situative Führung der gesamten Belegschaft offen sind, beginnt die Unternehmensdemokratie beim konsultativen Einzelentscheid.

Bezüglich der Partizipationsreichweite beginnt die Unternehmensdemokratie in ihrer schwächsten Form bei der Mit- oder Selbstbestimmung der eigenen täglichen Arbeit der Mitarbeitenden. Unternehmensdemokratie beginnt hier also bei der Mitbestimmung kurzfristiger, nicht-existenieller mithin operativer Entscheidungen.

Bezüglich der Partizipationsfrequenz müssen zumindest operative Entscheidungen fortlaufend demokratisch mitbestimmt entschieden werden oder taktische oder strategische Entscheidungen in größeren zeitlichen Abständen fortlaufend der Mitbestimmung unterliegen.

Verbindlichkeit der Unternehmensdemokratie

© Michael Rose, CC BY-SA 3.0
Deutsches Grundgesetz © Michael Rose, CC BY-SA 3.0

Zwei der Unternehmen, die ich im Buch portraitierte, haben sich entschieden, ihre Unternehmensdemokratie maximal verbindlich einzurichten. Im einen Fall wurde die Unternehmensdemokratie in der Betriebsverfassung festgehalten. Dort hat sich das Unternehmen erstens grundsätzlich und dauerhaft mit demokratischen Werten verbunden. Zweitens ist dort auch die Struktur demokratischer Entscheidungsgremien festgehalten. Im zweiten Fallbeispiel, einer Genossenschaft, wurden im Gesellschaftsvertrag die demokratischen Organisationsprinzipien festgehalten und zudem definiert, dass diese nur mit einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder geändert werden kann.

Dieses hohe Maß an Verbindlichkeit ist erfreulich, aber meines Erachtens keine Bedingung, um ein Unternehmen als demokratisch anzuerkennen. Die Verbindlichkeit schafft natürlich mehr Sicherheit, dass die Unternehmensdemokratie keine Eintagsfliege ist, kein halb gares Experiment, dass nach ein paar Monaten gleich wieder abgeschafft wird, weil es die Geschäftsführung irgendwann doch wieder glaubt, alleine erfolgreicher entscheiden zu können. Natürlich ist diese Sicherheit durch verbindliche demokratische Werte und Entscheidungsmechanismen wünschenswert, vielleicht sollte sie sogar das Ziel einer Unternehmensdemokratie sein. Allerdings erscheint es mir anmaßend, erst dann von Unternehmensdemokratie zu reden, wenn dieses hohe Maß an Sicherheit gegeben ist.

Wann ist ein Unternehmen demokratisch?

Den bisherigen Schritten folgend, würde ich die in diesem Beitrag leitende Frage folgendermaßen beantworten:

Es gibt schwache, mäßige und starke Formen von Unternehmensdemokratie. Ein Unternehmen ist in diesem Sinne

  • schwach demokratisch, wenn fortlaufend operative Entscheidungen durch die Belegschaft mitbestimmt werden
  • mäßig demokratisch, wenn fortlaufend operative und taktische Entscheidungen durch die Belegschaft mitbestimmt werden
  • stark demokratisch, wenn fortlaufend operative, taktische, strategische und normative Entscheidungen durch die Belegschaft mit- oder selbstbestimmt werden.

Ein Unternehmen ist dann besonders stark demokratisch organisiert, wenn nicht nur fortlaufend alle vier Partizipationsreichweiten durch die Belegschaft mit- oder selbstbestimmt werden, sondern wenn darüber hinaus die demokratische Verfassung auch dauerhaft verbindlich in einer Betriebsverfassung oder im Gesellschaftsvertrag festgeschrieben ist.
Soweit mein Versuch einer Definition, wann ein Unternehmen oder eine Organisation als demokratisch gelten kann.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

 

Fußnoten

[1] Wobei ich keineswegs für Führungskräftewahlen plädiere, wie ich in meinem Beitrag dazu klarstelle.

Bildnachweis
Stimmzettelabgabe: Rama, CC BY-SA 2.0 fr
Deutsches Grundgesetz: Michael Rose, CC BY-SA 3.0

 

Comments (4)

Danke für diese Klarstellung, lieber Andreas. Und die ist wichtig, denn es gibt wahrscheinlich kein Unternehmen, wo es wirklich Null Partizipation gibt. Zumindest in operativen Entscheidungen können selbst in streng hierarchischen Command-and-Control Kulturen die Mitarbeiter minimal mitbestimmen. Ich stimme Dir also vollkommen zu: Demokratie ist keine 0/1-Entscheidung, sondern ein Kontinuum. Allerdings wird es umso komplexer, je weiter man in diese Fragestellung eintaucht. Denn es ist ja nicht nur Demokratie zwischen 0 und 100 (und 100 ist da eher als Optimum denn als Maximum zu sehen) wählbar, sondern auch z.B. die Form der Demokratie ein Kontinuum. Wir sollten also bei nächster Gelegenheit die Gestaltungsspielräume von Demokratie in Unternehmen diskutieren. Wie wäre es mit den folgenden:
1. Management-Ebene (nicht zu verwechseln mit hierarchischer Ebene)::
Das entspricht nach meinem Verständnis Deiner Definition von schwach, mäßig und stark demokratischen Unternehmen. Ein bisschen angelehnt an das St. Galler Modell, wobei Du aber taktisch zwischen operativ und strategisch einfügst und normativ weglässt. Wäre das nicht aber eine “super-starke” Demokratie, die also nicht nur auf der strategischen Ebene Partizipation zulässt, sondern sogar auf normativer Ebene die eigene Daseinsberechtigung demokratischen Grundsätzen unterwirft. Das entspricht ja auch der oben erwähnten Möglichkeit, demokratische Prinzipien sogar durch Zwei-Drittel.Mehrheit demokratisch (sic!) abzuschaffen.
2. Stimmberechtigte, Gewichtung und Stimmenverhältnis
Du sprichst in Deinem Beitrag von der “Belegschaft”: Da stellt sich eben die Frage, ob da immer alle gemeint sind (sicher nicht). Für Entscheidungen sollten nach meiner Meinung nur die beteiligten Personen relevant sein, alle davon nicht Betroffenen sind wohl ausgeschlossen. Die Frage ist aber, wie man das konkret gestaltet. Man könnte im Extremfall allen Beschäftigten erlauben, bei allen Entscheidungen (sinnvollerweise nur die “nicht Alltäglichen”) mitzubestimmen und es dem Urteilsvermögen der Mitarbeiter überlassen, an der Diskussion und Abstimmung teilzunehmen. Auch stellt sich die Frage, ob man eine Gewichtung (z.B. nach Erfahrung) nutzt oder auch welche Mehrheitsverhältnisse notwendig sind.
3. Konsens-Prinzip
Das führt uns zur bereits vielfach diskutierten Frage, ob Entscheidungen “im Konsens” getroffen werden sollen. Da entstehen in der Vorstellung von einigen wohl Erinnerungen an lange und unerfreuliche Studenten-WG-Diskussionen, wer nun den nächsten Abwasch zu machen hat. SO nach dem Motto: Wenn alle mitreden, entsteht Stillstand. Dass es da inzwischen sehr gut funktionierende Beispiele, Tools und Prinzipien gibt, die optimale Beteiligung und damit letztendlich auch maximales Commitment erzeugen, ist vielleicht noch nicht bekannt genug. Aber auch hier ist natürlich viel Gestaltungsspielraum. Und übrigens ist ja das urdemokratische Prinzip des Mehrheitswahlrechts gerade keine Konsensentscheidung…
4. Und weitere
Es fallen mir sehr schnell noch weitere Gestaltungsspielräume ein. Bereits oben kurz erwähnt wurde die Verbindlichkeit durch Festschreibung entsprechender Kriterien in einer Art Verfassung. Dazu kommen noch Elemente wie Budget-Gestaltung und -Verwendung (Gibt es überhaupt Budgets?), Transparenz (Ist jede Information für alle verfügbar?), Arbeitszeit, Arbeitsort, inhaltliche Gestaltung der Arbeit etc. etc.
Und es stellt sich mir noch eine andere Frage: Wie viel Demokratie braucht’s denn, damit es sich wirklich “rechnet”? Ist sicherlich kein linearer Zusammenhang – aber das ist wieder eine andere Frage…
Ich freue mich auf eine weitere, spannende Diskussion!

Danke, Andreas für die hilfreiche Unterteilung, die die Vielfalt der demokratischen Dimensionen noch einmal sehr schön aufzeigt. Ich würde noch eine weitere differenzierende Dimension anregen, die Du schon in Deinem Punkt 2 der Partizipationsreichweite zeigst: die Partizipationstiefe – wie tief reicht die Demokratie in strategische Prozesse und ins Kerngeschäft eines Unternehmens? Damit zeigt sich m. E. auch der Grad des Vertrauens, der ein Unternehmen trägt oder eben auch nicht.
Was ich besonders spannend finde, ist Deine These, dass Unternehmen dann besonders stark demokratisch sind, wenn sie die demokratische Ausrichtung „dauerhaft verbindlich“ festschreiben. Dem stimme ich uneingeschränkt zu, denn genau das zeigt den Charakter einer starken Demokratie: einerseits ist sie so formbar, dass alle partizipieren können, andererseits bietet sie den „sicheren Boden“ auf dem sich Belegschaft und Führung bewegen. Sie ist sozusagen stabil und flexibel zugleich und das macht ihren eigentlichen Wert aus.
Viele Grüße
Daniela

[…] empfiehlt die Dimensionen Grad, Reichweite und Frequenz der Partizipation zum Einordnen ins Gestaltungsraster […]

[…] Zusammenspiel aus Grad, Reichweite und Frequenz der Partizipation an unternehmerischen Entscheidunge… lässt sich bestimmen, wie unternehmensdemokratisch es in einer Firma zugeht. [Andreas Zeuch, […]

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