Was Management-Literatur mit Evolution zu tun hat

Management-Literatur ist ein vielfältiges und breites Genre. Innerhalb dieses Kaleidoskops an Thesen, Ideen und Meinungen finden sich Werke, die in die Tiefe gehen – ich nenne hier gerne die Basis dieses Blogs „Alle Macht für Niemand“ oder die Übersetzung des „Viable Systems Model“ von Mark Lambertz (man möge mir meine Subjektivität verzeihen). Andererseits finden sich in diesem Genre etliche Publikationen, die eher allgemein und oberflächlich bleiben, aber dennoch gute Impulse liefern können, wie Laloux.

Ärgerlich wird es leider, wenn in dieser leichten Kost auf fragwürdige Modelle verwiesen wird, was hier im Blog bereits kritisiert wurde. In letzter Zeit ist immer häufiger von evolutionären Unternehmen oder vom Ökosystem Unternehmen die Rede. Hier lohnt ein Blick in die Tiefe, denn mit Bildern einer evolutionären Kette vom Affen zum Menschen lassen sich prima lineare Verläufe zeigen. Und Linearität ist grundsätzlich leicht zu verstehen. Im Kontext neuer Arbeit wissen wir jedoch längst, dass lineares Denken nur in wenigen Fällen hilfreich ist.

Der einseitige Effizienzgedanke

Schauen wir also in die Evolutionstheorie, die gerne als Basis für das zu kurz greifende Konzept des „survival of he fittest“ herhalten muss. Erstens wird damit immer noch der reine Effizienzgedanke verteidigt, der das Konzept verkürzt darstellt – dazu später mehr. Leider gingen selbst traditionelle Evolutionsbiologen lange Zeit davon aus, dass die Lebewesen ihre Ressourcen möglichst effizient und sparsam einsetzen. Zweitens ist „fittest“ nicht mit „der Stärkere“ zu übersetzen. Das sogenannte „Überleben des Stärkeren“ gibt die Evolutionstheorie nicht her. Die „natürliche Auslese“ impliziert nicht, dass der Stärkere überlebt, sondern der Anpassungsfähigste – eine völlig andere Lesart. Drittens wurden Darwins Erkenntnisse ins Deutschland vorrangig von Ernst Haeckel verbreitet, der als Wegbereiter der Eugenik und Rassenhygiene (mir widerstrebt es, dieses Wort überhaupt zu schreiben) in Deutschland gilt. Kritik an Darwin in diesem Kontext ist also eher eine Kritik an Haeckel. Über die unsägliche Ideologie des Sozialdarwinismus, die ebenfalls aus einem falschen Verständnis für Darwins Beobachtungen resultiert, hat Andreas hier bereits geschrieben – ich kann mich seinen Ausführungen nur anschließen.

Evolution ist mehr als natürliche Auslese

Was grundsätzlich bei der Referenz auf Darwin nicht beachtet wird, ist, dass er deutlich pluralistischer unterwegs war – insbesondere in den ersten Ausgaben seiner Werke. In seinem zweiten Hauptwerk (1871) „Die Abstammung des Menschen“ verwies er auf die Vielfalt – „die Vielfalt der Formen“ und „die Pracht der Farben in der Natur“, die mit einem Effizienzprinzip nicht zu erklären ist. In diesem Werk ergänzte er die Lehre von der „natürlichen Auslese“, die von Effizienzkriterien geprägt ist, um die Lehre von der „sexuellen Auslese“, die erklärt, warum wir in der Natur so viel mutmaßliche Verschwendung bzw. Vielfalt vorfinden. Diese Vielfalt konterkariert die Effizienz, weil hier die Idee der Schönheit hinzukommt. Philosoph Michael Schmidt-Salomon formulierte dies beim Cradle-to-Cradle-Kongress 2014 so:

„Attraktiv wirken aber nur solche Individuen, die es sich leisten können, überschüssige Energie in Schönheit zu investieren, denn dadurch demonstrieren sie auf verführerische Weise, dass sie aus dem Vollen schöpfen, also verschwenderisch mit ihren Ressourcen umgehen können.“

Wem die Vielfalt der Menschen nicht ausreicht, der schaue sich Tier-Dokus an: diese belegen die Vielfalt auf anschaulichste Weise.

„Darwin zeigte auf, dass diese verschwenderische, sexuelle Selektion für die Entstehung der Arten, insbesondere für die Entwicklung des Menschen, von allergrößter Bedeutung ist. Allerdings rechnete Darwin damit, dass es angesichts der auch unter Wissenschaftlern verbreiteten Prüderie wohl noch Jahrzehnte dauern würde, bis dieses Faktum allgemein akzeptiert würde.“ (M. Schmidt-Salomon)

Das größte Change Management der Geschichte

An dieser Stelle lohnt es sich, den zeithistorischen Kontext zu betrachten, in dem Darwin sich bewegte. Im 19. Jahrhundert hatte der humanistische Gedanke endgültig die Masse erreicht. War es in den Jahrhunderten davor noch eine Elite, die den Humanismus förderte, machte sich im 19. Jahrhundert das Bürgertum Darwins Gedanken zu eigen. Wichtig ist zu wissen, dass das 19. Jahrhundert weit entfernt von Säkularismus war. Insbesondere Deutschland – als Spätentwickler der industriellen Revolution – steckte tief in religiösem Gedankengut. Die Kirche hatte seit dem Mittelalter – im Zuge der Aufklärung und des Humanismus – das größte Change Management der westlichen Geschichte hingelegt.

Wir erinnern uns: weit mehr als ein Jahrtausend lang hatte die religiöse Bewegung um einen Wanderprediger (vulgo: die christlichen Kirchen) einen Schöpfungsmythos, eine Ursünde und die Erlösung im Jenseits tief in die Gesellschaft eingegraben. Mit zunehmender naturwissenschaftlicher Aufklärung geriet dieses Bild nicht nur ins Wanken, sondern begann, sich vollständig aufzulösen. Was also tun? Die Kirchen passten sich an und sahen nun in der Natur und in deren Beobachtungen den Beweis für die Existenz Gottes. Aus dieser Zeit stammt die Idee der „Bewahrung der Schöpfung“, die heute noch in manchem Nachhaltigkeitsdiskurs fortlebt. „Macht Euch die Erde untertan“, war der Aufruf an Forscher und Missionare, die Natur zu entdecken und sie im Namen Gottes zu kultivieren.

Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume formuliert Darwins Dilemma:

„Darwin war klar, dass er mit der Veröffentlichung die sogenannte „Natural Theology“ herausfordern würde, die Gottes Existenz aus Naturbeobachtungen heraus „beweisen“ wollte. Für ihn war das auch selbst schlimm, da er als junger Theologe sehr lange auch selbst der „Natural Theology“ von William Paley gefolgt war. Gleichwohl betonte er immer und immer wieder, dass sich Evolution und Gottesglauben nicht ausschlössen, zumal ja viele seiner wissenschaftlichen Freunde und Mitstreiter, zum Beispiel der Botaniker Asa Grey oder Alfred Russel Wallace, weiterhin fröhlich gottesgläubig waren.“

Wer die aktuelle ARD-Serie „Charité“ verfolgt, bekommt einen kleinen Einblick, was es bedeutete in dieser Zeit zu leben: auf der einen Seite bahnbrechende medizinische Forschungen und Erkenntnisse auf der anderen Seite tief religiös verwurzeltes Gedankengut, das den neuen Errungenschaften althergebrachte Traditionen gegenüberstellte. Für uns heute mutet diese Religiosität nahezu absurd an.

Evolution als Komplexitätsmodell

Tatsächlich begannen  Forscher erst 100 Jahre nach Darwins Tod die enorme Bedeutung der sexuellen Selektion zu begreifen. Heute gibt es keinen namhaften Naturforscher mehr, der dieses Prinzip bestreiten würde und das Wechselspiel zwischen der natürlichen Auslese und evolutionärer Vielfalt ignorieren würde. Anpassung steht immer in Wechselwirkung mit der Umgebung. Sandra Mitchell, Professorin für Wissenschaftstheorie und -geschichte an der Universität Pittsburgh, forscht zu methodischen Problemen in komplexen Systemen. Sie nimmt Rückgriff auf Darwins Forschungen und nutzt sie als Einstieg in ihre Ideen zum integrativen Pluralismus.

Darwin inspiriert also nach wie vor. Daher dürfen sich sicherlich auch Unternehmen von Darwin inspirieren lassen. Das ist auf jeden Fall für diejenigen sinnvoll, die gerne die Perspektive wechseln und denen leichte Literatur zu wenig ist – und insbesondere hilfreich im Kontext Neue Arbeit und Neues Wirtschaften.

 

Herzliche Grüße
Daniela

 

Vortrag Michael Schmidt-Salomon beim C2C-Kongress 2014:
https://www.youtube.com/watch?v=DOE_nBoJiL8

Literatur

Bildnachweis

  • Beitragsbild: T-Rex Headerfoto; pixabay; Efraimstochter; CC-0
  • Blaufusstölpel; pixabay; actually_useful, CC-0

 

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