Kulturwandel: Erwünschte Nebenwirkung

Es gibt viel zu tun in den meisten Unternehmen und Organisationen, kaum eine Organisation wartet auf einen Kulturwandel. Schließlich beklagen die wenigsten MitarbeiterInnen und Führungskräfte einen  Arbeitsmangel, auch wenn es mittlerweile ergänzend zum Burnout den Bore-Out gibt. Bekanntermaßen findet vielmehr eine Verdichtung der Arbeit statt, immer mehr muss von immer weniger Angestellten geleistet werden. Lassen wir mal die Kritik beiseite, die hier angebracht wäre, denn warum sollten wir endlos die Produktivität steigern und verkrampft versuchen, ewig weiter zu wachsen (die Antworten der Standardökonomie sind ebenso klar wie brüchig)? Darum geht es mir hier nicht.

Ich möchte etwas anderes reflektieren: Wenn der Arbeitsdruck derart hoch ist, wie können dann noch die zusätzlich dauernd auftauchenden Veränderungs-Projekte mit dem Ziel von Kulturwandel erfolgreich durchgeführt werden? Zum Beispiel, indem ein Team noch im Hochseilgarten rumturnt? Die Lösung ist ganz einfach, dazu folgendes Fallbeispiel aus unserer eigenen Praxis:

Kulturwandel als paralleler Auftrag

Das in diesem Zusammenhang für mich lehrreichste Beratungsprojekt führte ich vor einigen Jahren durch. Der Auftrag bestand darin, eine neue Strategie für einen Unternehmensbereich zu erarbeiten und gleichzeitig einen Kulturwandel anzustoßen. Die Situation war alles andere als entspannt: Das Unternehmen, eine Hundertprozent-Tochter eines größeren Unternehmens, hatte gerade die formale Fusion mit einem kleineren Unternehmen abgeschlossen. Der Standort des aufgekauften Unternehmens wurde gute 100 Km zum kaufenden Unternehmen verlegt. Alleine das führte zu einer Kündigungswelle, die von den anstehenden kulturellen Problemen der Fusion noch weiter verstärkt wurde. Als der Auftrag zur Beratung erteilt wurde, hatten 50% der Bereichsmitarbeiter gekündigt.

Das wäre schon eine durchaus herausfordernde Situation: dasselbe Arbeitspensum mit der Hälfte der MitarbeiterInnen in der vorgegebenen Zeit zu schaffen. Aber damit war der Druck im System noch nicht auf dem Höhepunkt. Denn gleichzeitig kam noch mehr Arbeit mit unbedingt zu erfüllenden, gesetzlich vorgegebenen Deadlines hinzu. Da war es schon Herausforderung genug, die geplante Strategieentwicklung zu erarbeiten, denn die sollte, so der Auftrag, unter Einbindung aller interessierten Führungskräfte und MitarbaeiterInnen erfolgen, parallel zu den dringenden Projekten. Gleichzeitig war es offensichtlich bitter nötig, einen Kulturwandel in Gang zu setzen. Einerseits hinsichtlich der beiden unterschiedlichen Kulturen durch die Fusion und andererseits bezüglich des neuen, noch nie dagewesenen Maßes an Mitbestimmung und Selbstorganisation. Dumm nur, dass genau dies als zusätzliche Baustelle völlig unmöglich war, wenn wir nicht weitere Burn-Outs, Krankmeldungen oder gar Kündigungen provozieren wollten.

Kulturwandel trotz mangelnder Ressourcen

©Andreas Zeuch, 2014

Unsere Lösung war ebenso einfach wie wirksam: Wir nutzten die anstehende Strategieentwicklung gewissermaßen als Vehikel, um gleichzeitig an der Kultur zu arbeiten: Erstens war – ohne jegliches Zutun – natürlich schon die Einladung  aller Interessierten zur Mitwirkung bei der Strategieentwicklung eine massive Intervention an sich. Natürlich konnte dadurch nicht punktgenau eine wie auch immer geartete andere Kultur erreicht werden. Aber es war eine deutliche Musterunterbrechung bisheriger Veränderungsprozesse. Denn bis dahin war das klassische Top-Down Prozedere üblich, zu dem auch gehörte, dass die Strategieentwicklung als Königsdisziplin des Managements von der Geschäftsführung und einigen wenigen Bereichsleitern alleine durchgeführt wurde. Der Kern dieser Musterunterbrechung bestand in zwei leitenden Arbeitsprinzipien, die wir gleich im Kickoff mit allen Mitarbeiter*innen des Bereichs einführten

  1. Jeder der will, darf mitgestalten, keiner muss und alle tragen die Konsequenzen.
  2. Die Türen stehen jederzeit offen.

Das erste Prinzip war unsere Einladung an alle Führungskräfte und Mitarbeiter*innen, nach Lust und Laune mitzuwirken. Wir stellten im Kickoff klar, dass es keinerlei Erklärungen bedarf, warum man und frau mitwirken will oder nicht. Es war eine absolut freiwillige Angelegenheit, die nicht durch das Topmanagement kontrolliert oder beeinflusst wurde. Das war eine unserer grundlegenden Bedingungen an die Geschäftsführung, um den Auftrag anzunehmen. Wir vereinbarten, dass eine Verletzung dieses Prinzips durch die Geschäftsführung zur Auflösung des Vertrags führt.

Das zweite Prinzip war ebenso konkret wie metaphorisch gemeint: Bei allen Workshops, die wir durchführten, standen die Türen wortwörtlich offen (es wäre interessant gewesen, sie auszuhängen…). Jeder durfte kommen und gehen, wie es ihm oder ihr beliebte. Keine Erklärungen, keine Entschuldigungen, einfach nur Abstimmung mit den Füßen. Die metaphorische Bedeutung lag darin, dass es zu jedem Zeitpunkt im Projekt möglich war, dazuzukommen oder auszusteigen. Es gab keine Deadline, bis zu der sich Interessierte entschieden haben mussten, verbindlich dabei zu sein. Der Grund dafür ist einfach: Auch ein temporäres Team entwickelt schnell blinde Flecken und droht in Gruppendenken zu verfallen. Wenn später neue Leute dazukommen, liefern sie wertvolle Anregungen, da sie noch frische Perspektiven einbringen können.

Der kulturelle Wert von Werkzeugen

Darüber hinaus etablierten wir von Anfang an eine neue Dokumentationskultur, indem wir ein bis dahin nicht eingesetztes Werkzeug nutzten: Live-Dokumentation über ein firmeninternes Wiki direkt in den Workshops und Meetings, das mit einem Beamer für alle sichtbar gemacht wurde. Auf diese Weise stellten wir sicher, dass alle Teilnehmer*innen für die Dokumentation verantwortlich waren und diejenigen, die fehlten, anschließend in der Dokumentation für alle sichtbar und transparent kommentieren konnten.

Das Ergebnis: Bereits nach dem Kickoff bekamen wir die ersten E-Mails mit Ideen und Gedanken zur Strategieentwicklung – obwohl die Mitarbeiter*innen laut Auftraggeber aufgrund diverser misslungener Changeprojekte nahezu vollständig beratungsresistent waren. Der erste Workshop war auf freiwilliger Basis trotz der eingangs beschriebenen heiklen Situation mehr als gut besucht. Der Raum war voll, die Arbeitsatmosphäre voller Energie und in der Tür war die ganze Zeit über eine wechselnde Menschentraube. Leute gingen und kamen wieder, andere gesellten sich dazu. Alle Anwesenden hörten aufmerksam zu, verfolgten das wachsende Wiki an der Wand und dachten offensichtlich mit.

Zusammenfassung

Kurzgefasst: Kulturentwicklung als zusätzliches, eigenständiges Projekt kann natürlich nützlich sein, ist aber keine zwingende Voraussetzung eines erfolgreichen Kulturwandels. Wenn zu Beginn eines Veränderungsprojektes die Haltung freiwilliger Mit- und Selbstbestimmung ebenso klar wie glaubwürdig kommuniziert wird und auch wirklich so gemeint ist, muss der Kulturwandel nicht zwingend in eigenen Workshops als eigenständiges Thema bearbeitet werden.

Es kann reichen, die Art und Weise zu ändern, wie ein ohnedies anstehendes operatives Projekt durchgeführt wird und dann auf Bedarf Reflexionsschleifen über das Wie anzubieten.

 

 

Herzliche Grüße
Andreas

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: dibaEigenes Werk, CC BY-SA 2.0 de
  • Straßenschild “Stress”: Andreas Zeuch

Comments (3)

Vielen Dank für diesen Praxiseinblick, Andreas.
“Kulturwandel als eigenständiges Projekt” halte ich für unmöglich.
Das Vorprojekt zu einem Kulturwandel kann sicherlich separat durchgeführt werden. Es lohnt, einen oder mehre Schritte Abstand einzunehmen und zu reflektieren, worin sich die aktuelle Kultur manifestiert und was davon aktuellen Zielsetzungen auch weiterhin zuträglich ist. Die Kulturveränderung selbst muss aber mit der und für die tägliche Arbeit geschehen – andernfalls ist das Ergebnis eine Inszenierung, die von der Wirklichkeit des Alltags abweicht.
Die Wirkung von Inszenierungen hält selten länger als ein paar Tage an, es sei denn es ist der Kern des eigenen Geschäfts wie bspw. in der Film und Theaterbranche. 😉

Hi Alexander,
klar muss der Kulturwandel letztlich immer in der “echten” Arbeit ankommen, ansonsten hat sich ja in der Arbeitskultur nichts verändert, ist ziemlich logisch.
Allerdings macht es durchaus Sinn und kann für die eigentliche Arbeit äußerst hilfreich sein, die innere Haltung zur Arbeit, zu Sinn und Zweck des Daily Business, zu Fragen von Verantwortlichkeiten im Innen und Außenverhältnis usw. usf. zu reflektieren und daran gezielt zu arbeiten. Ich kann nämlich auch Selbstorganisation dazu (miss)brauchen, einfach nur den Gewinn zu maximieren ohne das dies auch nur die Bohne ethische Fragen des Arbeitens berührt.
Insofern ein beherztes Ja und Nein von mir zu Deinem Kommentar.

Vielen Dank für den Artikel! Ich finde die Idee mit den zwei Grundprinzipien sehr inspirierend und beeindruckend.

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