Möglichkeitsräume. Grundlage für Innovationen

Wie wird ein Unternehmen innovativ? Wie kann es seine Innovationskraft dauerhaft halten? Gibt es Methoden, das sicher zu erreichen? Wer sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt, stößt früher oder später über einige auffällige Hinweise, die in eine ähnliche Richtung deuten:

Flache Hierarchien und Möglichkeitsräume

Erstens sind Unternehmen, die besonders innovativ sind, häufig kleine und junge Unternehmen oder zumindest welche, die (noch) keinen besonders starken, formal-hierarchischen Überbau haben. Genau deshalb gehen die großen Tech-Konzerne wie Google, Facebook, Apple und so weiter regelmäßig auf Start-up-Shopping, was denn auch effizienter ist, als selber mühevoll zu versuchen, Start-ups aufzubauen. Zweitens haben dort die Mitarbeiter das, was ich in meinem vorletzten Buch “Feel it!” Möglichkeitsräume genannt habe: Sie geben sich selbst die Erlaubnis, auch das Mögliche zu denken (individueller Möglichkeitsraum), bekommen es von außen nicht nur zugebilligt, sondern werden dazu  ermutigt (kultureller Möglichkeitsraum) und erhalten letztlich Ressourcen (Finanzen, Zeit, Kolleg*innen, Räume, Arbeitsmittel etc.) zur Verfügung (struktureller Möglichkeitsraum) – zu diesen drei Ebenen gleich mehr. Dies hat nicht nur der amerikanische  Wirtschaftswissenschaftler Clayton Christensen gezeigt sondern diverse Studien, die die Bedeutung von  Möglichkeitsräumen  weiter bestätigen.

So veröffentlichte bereits 2014 der Berliner Wirtschaftspsychologe Carsten Schermuly die Ergebnisse seiner damaligen Studie mit 225 Teilnehmer*innen.  Der Fokus dieser Untersuchung lag auf dem Zusammenhang zwischen der Beziehung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, dem Maß an eigenverantwortlicher Arbeit und dem jeweils vorhandenen Innovationsverhalten der Mitarbeiter. Schermuly und seine Kollegen befragten die Studienteilnehmer mit einem Onlinefragebogen:

  • „Wie gut versteht Ihr Chef Ihre Probleme und Bedürfnisse?“
  • „Ich kann selbst entscheiden, wie ich bei meiner Arbeit vorgehe.“
  • „Wie oft schlagen Sie vor, Produkte oder Dienstleistungen zu verbessern, an denen gerade gearbeitet wird?“

Das Ergebnis zeigte den Zusammenhang zwischen der Beziehungsqualität zum Vorgesetzten, dem eigenverantwortlichen Handeln (Selbstorganisation) und dem Innovationsverhalten: Je besser die Beziehung zum Chef ist, desto mehr konnten die Mitarbeiter selbstbestimmt arbeiten. Je besser die Selbstorganisation, desto innovativer die Mitarbeiter, was sich in häufigeren Verbesserungsvorschlägen äußerte.

Mit dieser Studie bestätigen Schermuly und Kollegen eine ältere Untersuchung aus dem Jahr 2010, in dem die Holländerin Karin Sanders mit Ihren Kollegen genau diesen Zusammenhang bei einer Untersuchung von 272 Mitarbeitern technischer Unternehmen zeigen konnten (“How to support innovative Behavior.“) Beide Untersuchungen zeigen eindeutig, dass es lohnenswert ist, den eigenen Mitarbeitern Freiraum zur selbstbestimmten Arbeit zu bieten. So wird Selbstorganisation zu einem wichtigen Hebel, um die Innovationskraft des Unternehmens zu stärken.

Möglichkeitsräume – die individuelle Ebene

Die folgende Erläuterung meines Konzepts der Möglichkeitsräume stammt größtenteils aus meinem vorletzten Buch “Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen“, S. 221-226

Die erste Ebene betrifft uns Menschen, jeden Einzelnen von uns. Wir müssen uns zunächst selbst den Möglichkeitsraum zugestehen, ihn aufbauen und pflegen. Konkret heißt das, uns selbst zu erlauben, nicht nur »Wirklichkeiten« wahrzunehmen, in ihnen zu denken und zu handeln, sondern auch die potenziellen Möglichkeiten gleichberechtigt daneben zu stellen. … Sich mit einem Sinn fürs Mögliche (“Möglichkeitssinn”, Robert Musil) im Möglichkeitsraum zu bewegen, ist der wahre Optimismus. Denn nur dort gestehen wir uns ein, dass die Dinge besser sein können, als sie in der bestehenden Wirklichkeit sind. Wer uns den Möglichkeitssinn und die dazugehörigen Räume verbietet, zeigt sich als paradoxer Pseudorationalist*. Denn all das, was jetzt Wirklichkeit ist, war früher nur eine Möglichkeit. Und für diese früheren Möglichkeiten sind diejenigen, die sie intuitiv erspürten, angefeindet und verlacht worden. Es waren stets verschiedenste Erfinder*innen, Entdecker, Unternehmer*innen, Wissenschaftler*innen, die Möglichkeiten sahen, die andere für lächerlich hielten. Genau ihrem angeblich verrückten Möglichkeitssinn verdanken wir das, womit wir heute ein besseres und effektiveres Leben führen können. Die Gleichung ist denkbar einfach: Möglichkeitssinn gleich Fortschritt.

Wir sollten eigenverantwortlich damit anfangen, uns selbst den Raum zu geben, unseren natürlichen Möglichkeitssinn zu leben. Fast jedes Kind ist da kraftvoller als so manch ein Manager, der eigentlich viel mehr bewegen könnte. Das, was bei fast allen von uns verschütt gegangen ist, müssen wir wieder zurückholen in unser Leben. Konkret setzt hier das an, was ich im vorigen Kapitel über unsere Erwartungshaltungen geschrieben habe. Mit welchen Erwartungen gehen wir jeden Morgen in unser Arbeitsumfeld? Inwiefern korrumpiert dort unser Wirklichkeitssinn unseren Möglichkeitssinn? Positive Erwartungen über die möglichen Leistungen der Mitarbeiter und das Vertrauen, dass diese Leistungen auch tatsächlich erreicht werden können, steigern unsere Möglichkeiten. Es ist aber auch das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit in der Arbeit. Wer sich selbst auch unter schwierigen Bedingungen Wirksamkeit zutraut, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr erreichen als diejenigen unter uns, die von Zweifeln geplagt sind. Natürlich lässt sich diese positive Erwartungshaltung nicht verordnen oder einfach nach Belieben umsetzten. Unsere Verantwortung liegt darin, im Falle hartnäckiger Zweifel Hilfe einzubestellen, um diese Zweifel auszuräumen.

Doch damit nicht genug. Fast jeder von uns hat irgendwo tief in sich drin die eine oder andere Leidenschaft, die viele von uns im Beruf bislang nicht umsetzen können. Aber sie ist da, was sich häufig in der Freizeit außerhalb des Berufes zeigt. Freilich können wir nicht mit jeder Leidenschaft im Beruf ankoppeln und in vielen Fällen wollen wir das gar nicht. Es ist an uns, ob wir im Beruf belanglos vor uns hin wurschteln, oder ob wir auch dort für etwas brennen; ob wir uns ganz und gar einlassen oder lieber auf Distanz bleiben wollen. Wirklichen Flow bei der Arbeit, echtes Glück erleben wir nur dann, wenn wir unsere Arbeit lieben – und zwar um ihrer selbst willen. Auch das müssen wir uns selbst als Möglichkeit einräumen. Wir müssen uns, wenn wir Fortschritt wollen, Räume in uns selbst geben.

Möglichkeitsräume – die kulturelle Ebene

Die zweite Ebene ist die Unternehmenskultur. Individuelle Möglichkeitsräume werden wie in einer Müllpresse zerquetscht, wenn die Unternehmenskultur nur auf die bestehenden Wirklichkeiten fokussiert. Wer Fortschritt will, sei es als Innovation von Produkten, Prozessen, Geschäfts- oder Managementmodellen, der braucht das kulturelle Engagement und die dazugehörige Selbstverpflichtung für Möglichkeitsräume. Niemand wird auf Dauer seine individuellen Möglichkeitsräume für das Unternehmen öffnen, wenn er oder sie dafür auf die eine oder andere Art abgestraft wird. Das setzt vielmehr Wertschätzung und Vertrauen voraus.

Wir brauchen Möglichkeitsräume als kulturelles Merkmal zwischen den Akteuren in unseren Unternehmen. Es muss selbstverständlich sein, gedanklich aus der »harten« Wirklichkeit auszubrechen, um wenigstens für eine gewisse Zeit die individuellen Möglichkeitsräume zu betreten. Dort können wir dann die innovative Kraft träumerischer Leidenschaft freisetzen. Und es bedarf einer entsprechenden Einsicht, dass Zufälle und Fehler einen nicht planbaren Mehrwert für das Unternehmen bedeuten können. Nur wenn wir den Zufällen und Fehlern diese Haltung gegenüber einnehmen, können wir sie mit entsprechender Achtsamkeit auch für uns nutzen. Wir müssen uns Räume zwischen uns geben.

Möglichkeitsräume – die strukturelle Ebene

Letztlich müssen wir auf der strukturellen Ebene konsequent sein. Das heißt Zeit und Ressourcen in angemessenem Umfang zur Verfügung zu stellen. Wenn Du das Konzept der Möglichkeitsräume ernst meinst, brauchen Deine Mitarbeiter*innen und/oder Kolleg*innen Freiraum in ihrer Arbeitszeit, in dem sie ihren Interessen und Leidenschaften nachgehen können. Eine Zeit, in der sie eigene Ideen entwickeln und Testprojekte auf- und umsetzen können. Logischerweise müssen sie ab einem gewissen Punkt auch Mitstreiter*innen für ihre Ideen gewinnen dürfen, die wiederum ihre Möglichkeitsräume zur Verfügung stellen. Und es muss möglich sein, unbürokratisch an ein bestimmtes Maß an finanziellen Mitteln heranzukommen, um kleine Experimente und erste Entwicklungsversuche durchführen zu können ohne vorherige Rechtfertigungsorgien über ein halbes Dutzend Hierarchieebenen.

Die strukturellen Möglichkeitsräume sind darüber hinaus eine Erweiterung der natürlichen »Inkubationsphasen«. In denen sacken zuvor bewusst aufgenommene und verarbeitete Informationen ins Unbewusste ab und werden dort im Rahmen der informationellen Selbstorganisation neu strukturiert und zusammengesetzt. Diese Inkubationsphasen entstehen in unserem Leben automatisch, wenn wir zwischen unserer Wohnung oder unserem Haus und dem Arbeitsplatz pendeln. Oder wenn wir Joggen gehen, Schwimmen, Klettern oder sonst einen Sport betreiben. Oder einfach mal zuhause nichts tun und vor uns hin dösen. Da haben wir die Räume, in denen es in uns gärt, wenn wir nicht über unser Problem nachdenken. Wenn wir entspannen. Und deshalb ist es sinnvoll, diesen Raum der Entspannung auszudehnen in das direkte Arbeitsumfeld.

Eine weitere pragmatische Umsetzung für einen Möglichkeitsraum ist somit ein realer Raum, der als Entspannungs- und Ruheraum dient, in dem wir verschont sind vor unserer Manie, ständig und andauernd erreichbar zu sein. Ein Raum, in dem wir mal für 15 Minuten ohne schlechtes Gewissen die Seele baumeln lassen dürfen oder vielleicht sogar einen kleinen zwanzigminütigen »Inkubationsschlaf« machen, statt uns wieder an den Arbeitsplatz zu quälen, die nächsten zwei Tassen Kaffee in uns hineinschütten, oder in schwereren Fällen gar zu härteren legalen oder illegalen Substanzen zu greifen, um dann resigniert festzustellen, dass wir wieder mal kein gutes Arbeitsergebnis erzielt haben. Wie so oft sind amerikanische Unternehmen auch hier innovationsfreundlicher. Verschiedene Firmen ermöglichen ihren Mitarbeitern in der Pause den »power nap«, indem sie Ruheräume, Schlafzelte oder Liegesessel zur Verfügung stellen. Schließlich fördert diese Schlafpause die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter. Ruhephasen in Ruheräumen zu verbieten oder als unwirtschaftliches Unding hinzustellen, gesellt sich in die immer länger werdende Reihe paradox pseudorationaler Behauptungen.

Möglichkeitsräume im priomy CultureCheck

Da Möglichkeitsräume so wichtig und ein hervorragender Stellhebel für mehr Innovationen sind, haben wir sie als Teil des priomy CultureChecks aufgenommen. Wenn sich Deine Organisation bezüglich des Stands ihrer Selbstorganisation transparent machen möchte, wenn Ihr erfahren wollt, was wir von priomy von außen an Erfolgen und Entwicklungspotenzialen für Eure Selbstorganisation sehen, dann könnt Ihr durch uns einen CultureCheck durchführen lassen. Wir kommen dann zu Euch und sprechen mit Freiwilligen über viele Facetten selbstbestimmter Arbeit, Selbstorganisation und Unternehmensdemokratie. Die Ergebnisse der Interviews analysieren wir in einem mehrstufigen Verfahren und entwickeln daraus einen ausführlichen Bericht mit einem Executive Summary. Die Ergebnisse könnt Ihr dann beispielsweise für Euer Employer Branding nutzen. Das haben mittlerweile die ersten beiden Unternehmen gemacht und darüber werden wir im www.priomy.de/blog bald berichten.

*Paradoxer Pseudorationalismus, ein Begriff, den ich in “Feel it!” prägte: Manager geben vor, wissenschaftlich fundiert ihre Unternehmen zu führen, obgleich sie lang bekannte, immer noch gültige und aktuelle Forschungsergebnisse nicht in ihr angeblich »rationales« Kalkül einbeziehen. Sie verhalten sich nachweislich irrational, behaupten aber dreist das Gegenteil.

 

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

 

Quellen und Literatur

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Pixabay License
  • Schermuly: © SRH Berlin, mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Carsten Schermuly
  • Feel it: © Wiley, Autorenrechte
  • Crazy Hipster im Büro: Pixabay License

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