Sexismus-Dialog statt -Debatte: Wir müssen reden

Wir müssen reden. Dringend. Innerhalb weniger Wochen bin ich mehrmals von Männern gefragt worden „Wie ist das jetzt mit dem Sexismus? Darf ich jetzt noch nicht mal mehr jemanden ansprechen oder gucken?“ „Du Vollhonk, was soll so eine dämliche Frage, was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, hätte ich einem spontanen Impuls nachgebend am liebsten entgegnet, aber ganz ehrlich? Ich weiss es manchmal selbst nicht – zumindest nicht immer sofort in der jeweiligen Situation, sondern erst in der Reflexion darüber.

Ich habe eine kleine Weile überlegt, ob ich diesen Artikel schreiben soll, weil das Thema soooo groß ist, dass ich es unmöglich in Gänze erfassen kann. Außerdem polarisiert es und als Kultur-Konstrukt Frau habe ich mich gut darin eingerichtet, es vielen Menschen Recht machen zu wollen, nett zu sein und die Versteherinnen-Rolle auszufüllen. Sei’s drum, ich will nicht immer nett sein. Oder um mit Sophie Hunger zu sprechen: „Love is not the answer to everything.“

#Aufschrei, #MeToo – Material für einen Kulturdialog

Was meiner gefühlten Wahrnehmung nach mit der #Aufschrei-Debatte 2014 in Deutschland begann und sich aktuell international unter dem Hashtag #MeToo weiterträgt (zum Glück), hat unglaublich viele Facetten und die Diskussion darüber ist enorm wichtig. Mittlerweile nerven mich Menschen – ganz gleich ob männlich oder weiblich – die das Thema Sexismus verdrängen oder Feminismus ablehnen.

Hier ist m.E. eher das „Fuck you“ von Lily Allen angebracht. Und nein, natürlich ist es nicht in Ordnung, wenn Männer einen ungefragt umarmen, berühren oder in den Ausschnitt gucken. Ist es nicht. Ist es nicht? Moment mal. Habe ich das umgekehrt nicht selbst schon gemacht? Männer ungefragt umarmt, ihnen im Gespräch die Hand aufs Knie gelegt, einen Blick auf den Hintern gerichtet oder sogar auf die Vorderseite, um zu sehen, ob er Rechts- oder Linksträger ist? Nur so halt, um zu sehen, ob man das wirklich sehen kann. Mich in Prosecco-Stimmung bei der Betriebsfeier ungefragt auf den Schoß eines Kollegen gesetzt, den ich ganz süß fand?

Und andererseits mich fremdgeschämt, als leicht bekleidete Jungesellinnenabschied-Absolventinnen mäandernd durch die Fußgängerzone zogen und alles plump anbaggerten, was nicht bei drei auf den Bäumen war? Ähm, ja habe ich. War das auch Sexismus? Die Männer haben sich schließlich nie gewehrt. Nein, war es nicht, denn ich befand mich nicht in einer Machtposition. Ich bin übergriffig geworden, das ist unschön genug, aber es war kein Sexismus.

Sexismus als Bodensatz

First of all: Das hier wird kein Best Practice, ich werde auch nicht die Deutungshoheit über den Bedeutungsgehalt des Begriffs Sexismus übernehmen. Die folgenden Zeilen sind Impulse zum Selberdenken und Reflektieren und geben meine Beobachtungen und Erfahrungen weiter, mehr nicht.

Da das Thema so groß ist, werde ich am Ende des Artikels vermutlich feststellen, dass es eine Fortsetzung geben muss. An dieser Stelle will ich auch klar abgrenzen zwischen Sexismus und sexueller Belästigung/sexueller Gewalt. Sexuelle Belästigung ist Verletzung, wenn ein Nein oder eine Abwehr nicht gehört oder akzeptiert wird. Sexismus scheint mir die Geisteshaltung dahinter zu sein. Sexismus bedeutet Machtausübung und Reduzierung des Gegenübers. Sexismus braucht den Kontext, um als Sexismus erkannt zu werden. Sexismus, Rassismus und Diskriminierung sind verschiedene Seiten der gleichen Medaille.

Wegducken ist keine Lösung

Was mich sehr an der aktuellen Diskussion nervt, ist, dass Männer sich raushalten oder/und nur vereinzelt sichtbar werden. Dass Männer um mich herum unsicher werden ist neu. Daher ist es gut, wenn sie den Mund aufmachen und fragen. Es wird schlecht, wenn sie sich zurückziehen. Feminismus geht nur gemeinsam mit Männern.

Die Frage ist: Warum sind Männer unsicher? Und vor allem: Warum sind sie das nicht schon lange? Deshalb ist es notwendig, zu reden. Über Rollen. Über Geschlechterrollen. Unsere moderne Gesellschaft hat sich darauf verständigt, dass es mehrheitlich eine Geschlechterdualität gibt – auf Basis biologischer Unterschiede. Ich meine hier ausschließlich körperlich sichtbare Unterschiede. Körperlich sichtbare Unterschiede zu machen ist einerseits einfach, weil schnell unterscheidbar. Andererseits verkennt man dabei, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt, was wiederum Ausgrenzung bedeutet. Nicht gut, aber zum Glück hat das Bundesverfassungsgericht kürzlich erst die Intersexualität legitimiert. Ein Anfang.

Unheilvolle Allianz: Biologie und Rolle

Geschlechterzuschreibungen, die über biologische Unterschiede hinausgehen, sind kulturell gelernte und reproduzierte Praxis oder neudeutsch: Wir machen seit Jahrtausenden copy and paste. Diese Zuschreibungen sind Konstrukte, die im Laufe der Geschichte mit komplexen und absurden Inhalten gefüllt wurden, die nicht gleichberechtigt vereinbart wurden, sondern Jahrtausende lang für den Erhalt von Machtstrukturen be- und ausgenutzt wurden und noch werden. Die Zuschreibung „Mann“ sagt Männern, wie sie sich zu verhalten haben, wie sie sich selbst verstehen sollen und wie sie auszusehen haben.

Genauso gilt dies für das kulturelle Konstrukt „Frau“. Ich habe nie aktiv zugestimmt zu einer Rolle, in der ich mich ausschließlich über mein Aussehen definieren soll oder mein Lebenszweck sich auf Kinderbekommen und Partnersuche reduziert.
Auf diesem konstruierten Nährboden haben Sexismus und sexualisierte Gewalt grundsätzlich mal eine gute Überlebenschance.

Von Piraten, Beauty-Queens und invasiven Arten

In diesem Rollenkonstrukt wachsen Männer mit dem Selbstverständnis auf, dass sie sich vor nichts und niemandem fürchten müssen, dass sie stark sind, etc. blabla, Pirat, Ritter, Formel-1-Fahrer oder Held sind. Umgekehrt wächst ein Mensch mit biologisch weiblichen Merkmalen im Konstrukt Frau „mit dem Dauerhinweis auf, sich zu schützen, aufzupassen: Stell deinen Drink nicht unbeobachtet an der Theke ab, mach den Ausschnitt nicht zu tief, den Rock nicht zu kurz, die Hacken nicht zu hoch. Geh nicht im Dunkeln allein zum Bus, nimm doch besser das Taxi statt den Bus. Vermeide Augenkontakt, halt’ die Beine geschlossen, lern Selbstverteidigung.“, wie es die Soziologin Paula-Irene Villa kürzlich im Deutschlandfunk beschrieb.

In dieser Rollenverteilung wird Frauen – ergänzend zum Gruselthema „Beauty“ – erzählt, dass jede Frau Kinder bekommen muss, dass der Hochzeitstag der schönste Tag im Leben ist und dass die Suche nach dem einzig richtigen Partner (natürlich männlich) der Hetero-Normalzustand und Lebenszweck ist und von der Natur so vorgesehen. Um diese Rolle herum hat sich eine unfassbare Maschinerie von Partnerbörsen, Kinderwunschkliniken, Hochzeitsplanungsagenturen samt fetter medialer Verbreitung entwickelt, die alle trefflich an dieser Wunschvorstellung verdienen.

Alleine der Umstand, dass diese mutmaßlich natürlich vorgegebene Konstruktion kapitalistisch ausgeschlachtet werden kann, muss einem zu denken geben und zur Frage führen, ob das alles wirklich naturgegeben sein kann. Evolution hat nichts mit Kapitalismus zu tun. Als Menschen sind wir eine invasive Art geworden – für den Planeten, den wir bewohnen, werden wir für eine lange Zeit – neben weiteren Faktoren – auch aufgrund unserer Größe eine Belastung sein. Das bedeutet nicht, dass wir uns gar nicht mehr vermehren sollen.
Auf der anderen Seite führen diese Konstrukte dazu, dass Männern eingeredet wird, dass Frauen gewisse Dinge einfach nicht können oder dass sie beschützt werden müssen. Oder dass andere Dinge wiederum – das ominöse Multitasking ist ein tolles Beispiel dafür – nur der Weisheit von Frauen vorbehalten bleiben. Eine hypersexualisierte Werbe- und Bilderwelt (die übrigens gar keinen Sex zeigt, sondern nur das Versprechen darauf antriggert) mit Darstellungen photogeshopter Körper und pseudoromantischer Illusionswelten zementiert und bewahrt das erlernte Rollenverständnis.

Welcome Kulturwandel

Doch genug der Schreckensbilder – die gute Nachricht: Diese Rollenverteilung löst sich zunehmend auf – Männer dürfen heulen und daheim bei den Kindern bleiben, Frauen sind keine Aliens, wenn sie keine Kinder bekommen können oder wollen. Die schlechte Nachricht: das ist noch nicht bei allen angekommen, weil die alten Machtstrukturen ein mächtiges und ungesundes Netzwerk aus TäterInnen und MitwisserInnen haben, die ihre Macht ungerne abgeben, weil sie davon profitieren. Und damit können wir beim Arbeitsplatz anschließen.

Der Arbeitsplatz sollte idealtypisch ein neutraler Ort sein, an dem Fachkompetenz vor Konkurrenzdenken steht. Dem ist real nicht so, oh Wunder, denn diese gesellschaftlichen Machtstrukturen finden ihre Entsprechung in Unternehmen alter Ordnung – sprich: in Old Work Unternehmen (natürlich nicht pauschal in allen), die aktuell noch die Mehrheit aller Unternehmen bilden. Und somit fühlen sich auch hier der Sexismus und seine Gefährten wohl. Da werden z.B. 30-jährige Frauen nicht eingestellt, weil sie schwanger werden könnten oder Ü-50 Menschen werden abgelehnt, weil man ihnen Wissen, Agilität und Produktivität abspricht. Bitte dies auch nicht zu schwarz-weiss sehen, auch manches New Work Unternehmen ist nicht vor dem Copy&Paste der alten Arbeitswelt gefeit.

Ergänzend möge man selbst nach eigenen #MeToo-Erlebnissen in Unternehmen – New und Old Work – kramen, ich bin sicher, dass es sie gibt. Ich habe selbst sowohl #MeToo-Erfahrungen als auch Alltagssexismus-Erfahrungen gemacht. Manche waren eindeutig und ich hätte gerne darauf verzichtet. Bei manchen war ich Mittäterin aufgrund der Machtstrukturen und bei manchen war ich nicht sicher, ob und wer hier sexistisch agiert.

Entspannt Euch!

Schauen wir noch einmal auf die Eingangsfrage: „Darf ich jetzt noch nicht mal mehr jemanden ansprechen oder gucken?“ Mit der entsprechenden Sensibilität für Rollenkonstrukte und das Wissen um Machtsituationen erübrigt sich die Frage nun. Ansprechen muss und sollte grundsätzlich in Ordnung sein, ein flüchtiger Blick auch. Warum auch nicht? Menschen mit weiblichen biologischen Merkmalen sind weder nur Opfer, noch sind Menschen mit männlichen biologischen Merkmalen nur Täter. Wir sind soziale Wesen und einvernehmlicher Körperkontakt dient der sozialen Bindung und ist somit ein Hygienefaktor einer gesunden Gesellschaft. Hört sich nicht so romantisch an, ich weiss.

Aber sollte es uns nicht möglich sein, das Ganze auch entspannter zu betrachten? Nicht Konkurrenz sondern Kooperation denken? Gegenseitiges Kennenlernen nicht linear als Mittel zum Zweck (die/den „Richtige/n“ finden und/oder Konkurrenten/-innen auszuschalten) verstehen, sondern spielerisch experimentell ohne Zielvorgabe – Scheitern inkludiert?

Ja, das ist schwierig, wenn man und frau seit Jahrhunderten verinnerlicht hat, dass Frauen sich angeblich immer den Mann suchen, der die gesündesten Spermien hat. Und dies auch noch mit Studien belegt wird, die natürlich nicht in Frage gestellt werden, weil sie patriarchale Machtverhältnisse stabilisieren. Hier ist die Konkurrenz vorprogrammiert – auf beiden Seiten. Fällt niemandem auf wie destruktiv diese Sicht ist?

Partnerbörse Arbeitsplatz

Warum stelle ich diese Fragen im Kontext Arbeitsplatz? Ganz einfach: Möglich, dass einige Unternehmen es noch nicht gemerkt haben, aber sie sind soziale Räume und der Arbeitsplatz ist gleichzeitig auch der Platz an dem partnerschaftliche Beziehungen geschlossen werden – egal, ob für kurzfristig oder für langfristig – und ich halte es für überhaupt nicht produktiv, wenn sich dies ändert. Ergänzend tragen sich Rollenverständnisse in Teamverhalten und – kommunikation hinein. Wenn sich weiterhin reale Menschen an Arbeitsplätzen aufhalten, diese Arbeitsplätze aber sterile Räume werden, bekommen wir ein Problem bei der Zusammenarbeit, das sich in die Gesellschaft trägt.

Laut einer Jobrapido-Studie hat jede/r 3. ArbeitnehmerIn schon einmal eine Affäre am Arbeitsplatz gehabt. Rund jede/r 10. ArbeitnehmerIn schließt am Arbeitsplatz langfristige Beziehungen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Beziehungen, die ich mit Kollegen hatte, immer für eine bestimmte Zeit hochproduktiv waren und für unsere jeweiligen Arbeitgeber ein enormer Gewinn. Es ist grundsächlich nicht einfach und wenn es bei einer Affäre bleibt, gibt es genug Konfliktpotential. Grundsätzlich muss man aufmerksam sein, dass das Ganze nicht kippt, aber oft merken die Paare das selbst und dann wechselt einer eben die Firma oder auch beide.
Im Kontext New Work / Neue Arbeit ist das Thema für mich noch zentraler: denn wenn Hierarchien fallen und die Arbeit gleichberechtigter, kooperativer und im Idealfall weniger einseitig machtkonzentriert wird, bietet dies auch die Chance zur offenen Kommunikation, zum Experiment und zur Entspannung. Und meine Hoffnung ist, dass es dann langfristig mit der wirklichen Gleichberechtigung klappt, die Frauenquote überflüssig und der Gender Pay Gap Vergangenheit wird.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wir müssen reden. Die Sexismus-Debatte muss zum Sexismus-Dialog werden. Das ist jetzt halt so. Einfach und bequem war es lange genug.

 

Herzliche Grüße
Daniela

 

Literatur

Feministische Grundausstattung (Startpaket):

  • Das andere Geschlecht – Simone de Beauvoir
  • Das Unbehagen der Geschlechter – Judith Butler

Auf meinem Nachttisch:

  • Untenrum frei – Margarete Stokowski (ich oute mich als Fan und empfehle auch vollumfänglich ihre taz- und Spiegel-Kolumnen)
  • Das Schweigen der Männer – Dasa Szekely
  • Wie Männer mir die Welt erklären – Rebecca Solnit (danke an Ulrike Stegmaier!)

Zur Vertiefung:

  • Die Feigheit der Frauen – Bascha Mika
  • Living Dolls – Natasha Walker
  • Blog und Bücher von Laurie Penny: http://laurie-penny.com/blog/

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: pixabay, komposita, CC-0 Lizenz, gemeinfrei

 

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