Soziokratie 3.0 – die bessere Demokratie?

Es ist ein sonniger Donnerstagnachmittag im September 2016. Ich bin auf dem Weg zu einem Workshop im Berliner Umland, und obwohl ich regelmäßig an Trainings teilnehme oder sie leite, bin ich diesmal besonders gespannt. Das Thema der Veranstaltung ist Soziokratie 3.0, eine Weiterentwicklung des Organisationssystems Soziokratie, das im 20. Jahrhundert in den Niederlanden entscheidend geprägt wurde. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Der Workshop wird buchstäblich eine Reise in eine andere Welt. Doch dazu später mehr.

Was ist Soziokratie und woher kommt sie?

Im Begriff „Soziokratie“ verstecken sich die beiden Elemente „Sozio-“ (von lat. socius = Gefährte, Verbündeter) und „-kratie“ (von gr. krateia = Macht, Herrschaft). Soziokratie bedeutet demnach in der direkten Übersetzung etwa die „Herrschaft der Gefährten“. Die Terminologie ist zugegebenermaßen etwas sperrig, schließlich ließe sich eine Gefährtenherrschaft auch in Richtung Oligarchie oder Nepotismus fehlinterpretieren. Die Vordenker der aktuellen Entwicklungsstufe bezeichnen ihre „Soziokratie 3.0“ hingegen als „Methode zum Auf- und Ausbau effektiver, agiler und resilienter Organisationen jedweder Größe“ – vom Start-up über den multinationalen Konzern bis hin zu globalen zivilgesellschaftlichen Netzwerken.
Die Methode lässt sich zurückführen auf den französischen Philosophen Auguste Comte, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Soziokratie als „soziale Ordnung der Zukunft“ bezeichnete, die noch nicht erreichbar, schlussendlich jedoch unvermeidlich sei. Der Aufstieg der Soziokratie war jedoch mühsam und spielte sich im 20. Jahrhundert fast ausschließlich in den Niederlanden ab. Maßgeblich war dabei unter anderem der Unternehmer Gerard Endenburg, der seine Firma Endenburg Elektrotechniek soziokratisch organisierte. Besonders interessant mit Blick auf die Niederlande: Seit 1994 besteht dort ein Gesetz, demzufolge soziokratische Organisationen keinen Betriebsrat mehr haben müssen – weil breit angelegte Mitbestimmung und Interessensvertretung bereits in der DNA der Soziokratie verankert sind.

Was sind die zentralen Elemente von Soziokratie 3.0?

Wie andere Ansätze hat sich auch die Soziokratie mit der Zeit weiterentwickelt. Die so genannte „Soziokratie 3.0“ (auch als „S3“ bekannt) hebt sich von der klassischen Soziokratie durch die Integration von Lean– und Agile-Ansätzen sowie durch eine weniger dogmatische Herangehensweise ab. Vereinfacht gesagt lautet die Botschaft der S3-Gemeinde: „Soziokratie 3.0 ist mit modernen Kollaborationswerkzeugen kompatibel und jeder kann aus der Methode die Bausteine herausgreifen, die seine Organisation voranbringen.“
Folgende Elemente sind zentral für S3:

  • Treiber: Im Gegensatz zum traditionellen „Mission Statement” ist bei S3-Organisationen der Treiber ausschlaggebend. Der Treiber drückt aus, was Menschen, Teams und Organisationen in einer spezifischen Situation zum Handeln motiviert. Die Besonderheit: Bei der Definition von Treibern werden die Bedürfnisse aller Beteiligten aktiv einbezogen. Jede Person wird zu einem Sensor für das gesamte System, Spannungen werden kontinuierlich transparent gemacht und verarbeitet. Dadurch entsteht ein aktiver Austausch, ein hohes Maß an Eigenverantwortung und eine fortwährende Verbesserung der Zusammenarbeit, um die gemeinsam definierten Treiber zu befriedigen.
  • Konsent: Ja, richtig gelesen – Konsent, nicht Konsens. Konsens bedeutet „Ja, ich stimme zu“, Konsent hingegen „Ich habe keinen schwerwiegenden Einwand“. Der offensichtlichste Vorzug: Bei der Anwendung des Konsent-Prinzips sinkt das Risiko endloser Diskussionen oder Pattsituationen. Niemand kann die Entscheidungsfindung mit einem Veto blockieren. Stattdessen können begründete Einwände gegen einen Vorschlag erhoben werden, die dann in den Vorschlag integriert werden können. So bleibt der Entscheidungsprozess konstruktiv, und am Ende steht ein gelassenes „Gut genug für jetzt“. Nach der iterativen Logik sind in S3 Beschlüsse nicht in Stein gemeißelt und müssen daher nicht perfekt sein.
  • Rollen und Wahlen: In soziokratischen Organisationen übernimmt jedes Mitglied eine oder mehrere Rollen. Rollen unterscheiden sich massiv von klassischen Stellen, da sie personenunabhängig sind und flexibel kreiert, angepasst oder abgeschafft werden können. Besonders interessant ist die soziokratische Wahl: Wenn eine Organisation zum Beispiel entscheidet, dass zur Befriedigung des Treibers „Verbesserung des Zeitmanagements in Meetings“ die Rolle eines Zeitnehmers geschaffen werden soll, findet eine offene Wahl statt. Nach Verlesung der Rollenbeschreibung schreibt jedes Teammitglied auf, wen sie für die Rolle vorschlägt. Dann werden diese Vorschläge öffentlich gemacht, und jede Person begründet, warum sie ausgerechnet diese Person in der Rolle sieht. Es folgt eine offene Diskussion, bis am Ende jemand mit Konsent gewählt wird. Anders als bei der demokratischen Wahl muss dies nicht die Person sein, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhält. Stattdessen kann die Wahl auf jemanden fallen, der in der Rolle besonders viel dazulernen könnte – was jedoch erst dank der offenen Diskussion klar wird.

Die unkommerzielle Mutter der Holokratie

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Geschichte der Soziokratie, © sociocracy30.org

Dem ein oder anderen Leser ist inzwischen vielleicht aufgefallen, dass die Soziokratie viele Ähnlichkeiten mit der von Brian Robertson populär gemachten Holacracy aufweist. Charakteristisch für beide Systeme ist auch die Organisation in Kreisen mit doppelter Verlinkung. Die Holokratie ist derzeit in aller Munde und gilt vor allem bei Start-ups als das ultimative Organisationsmodell. Nur wenige wissen jedoch, dass Holacracy erst um 2007 aus der Soziokratie hervorging und diese nur punktuell ergänzte, um das neue Modell dann unter eigenem Namen zu vermarkten.
Für manchen Vertreter der Soziokratie, insbesondere der liberalen S3-Variante, ist die Selbstinszenierung der Holokratie ein Dorn im Auge. Während die S3-Gemeinde auf ihrer Internetseite zahlreiche Ressourcen kostenfrei zur Verfügung stellt, lassen Brian Robertson & Co. sich die Nutzung ihres Ansatzes teuer bezahlen. Auch die Weiterentwicklung der streng geschützten Methode findet ausschließlich in den heiligen Hallen von Holacracy One statt. Im Gegensatz dazu ist die Soziokratie 3.0 mit einer Creative Commons-Lizenz belegt und wird gemeinschaftlich weiterentwickelt. „Durch ihre Flexibilität und ihre Anleihen bei verschiedensten Disziplinen ist S3 derzeit das aktuellste System“, sagt Workshop-Leiter Arne Bollinger. Er macht deutlich, dass sich die Soziokratie nicht hinter ihrer kommerziellen Tochter, der Holokratie, verstecken müsse.

S3 im Workshop – eine Reise in eine andere Welt

Woran liegt es, dass die Soziokratie vor allem in Bezug auf ihre Anwendung in unternehmerischen Kontexten gefühlt stark im Schatten bekannterer Ansätze steht? Ein möglicher Grund ist, dass durch den weniger dogmatischen Ansatz auch weniger Erfolgsgeschichten bekannt sind als etwa bei der Holokratie. Hier gilt das US-Unternehmen Zappos immer wieder als Paradebeispiel. Wer sich hingegen für die unprätentiösere Soziokratie entscheidet, will möglicherweise weniger als „Jünger“ einer bestimmten Schule betrachtet werden.

Teilnehmende des S3-Workshops in Brück. © Malte Cegiolka
Teilnehmende des S3-Workshops in Brück. © Malte Cegiolka

Die nicht-kommerzielle Philosophie von S3 wird auch im Workshop deutlich, an dem ich Ende September im brandenburgischen Brück teilnehme. Er richtet sich unter anderem an Menschen, die in alternativen Gemeinschaften zusammenleben. Als einer der wenigen Teilnehmer mit Business-Hintergrund brauche ich eine Weile, um mich auf die anderen einzulassen. Dann jedoch wächst schnell das gegenseitige Interesse und die Wertschätzung dafür, dass in diesem Rahmen nicht sofort an den ROI und die Implementierungskosten neuer Ideen gedacht wird.
Der Referent Arne Bollinger (nach diesem Absatz findet sich ein Audiomitschnitt meines Gesprächs mit ihm) lässt uns S3 hautnah erfahren: Bei einer simulierten soziokratischen Wahl erhalte ich unverhofft den „Zuschlag“ für eine Rolle und bin extrem beeindruckt, wie die Öffnung des Wahlprozess die Meinungs- und Willensbildung anregen kann. Auch die Bezahlung des Workshops läuft unkonventionell ab: Zusätzlich zu einem Sockelbetrag geben alle Teilnehmenden unterschiedliche hohe Spenden, die dann in einem transparenten Prozess auf alle Teammitglieder umgelegt werden, bis niemand mehr Einwände hat / Konsent besteht. Es fühlt sich an wie eine Reise in eine andere, sehr viel versprechende Welt.

 

Ist Soziokratie die bessere Demokratie?

Die treibenden Kräfte hinter der Soziokratie 3.0 betonen, dass ihr skalierbarer Ansatz auch in der Organisation von gesellschaftlichen und demokratischen Prozessen funktionieren würde. Wenn man sich eingehender mit S3 beschäftigt, erkennt man einerseits, dass das Modell mittlerweile auf der ganzen Welt immer mehr Anwendung findet. Andererseits ist insbesondere bei größeren Unternehmen noch keine kritische Masse erreicht, um ein abschließendes Urteil über die praktische Implementierbarkeit der Soziokratie zu fällen. Ganz subjektiv und rein auf mein Bauchgefühl begründet behaupte ich aber, dass der S3-Express in den kommenden Jahren deutlich Fahrt aufnehmen wird. Vielen Menschen, auch Unternehmern, wird sich die Chance bieten, in diesem Zusammenhang althergebrachte Denkmuster und Formen der Zusammenarbeit zu überdenken. Die Demokratie darf sich freuen.

Herzliche Grüße
Arne

Bildnachweis
Beitragsbild: Dominic Alves, gemeinfrei
Geschichte der Soziokratie: sociocracy30.org
Teilnehmende des S3-Workshops: Malte Cegiolka

Comments (1)

Lieber Arne,
vielen Dank für diesen tollen und methodisch wegweisenden Beitrag. Ich freue mich sehr, dass die Soziokratie sich weiterentwickelt und aktuell kraftvolle Elemente agiler Methoden aufgreift und integriert. Durch den open source Ansatz von Soziokratie habe ich Vertrauen, dass hier die Weisheit der Vielen greifen wird, während Holacracy Gefahr läuft, durch die Kommerzialisierung zementiert zu werden.
LG, Andreas

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