Fallbeispiel #1: Scrum und Unternehmensführung

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Hier kommt das erste Fallbeispiel, dass die in meinem neuen Buch beschriebenen Fälle um die Methode Scrum ergänzen wird. Dieser Blogbeitrag ist gewissermaßen der Teaser zu einer ausführlichen Fallstudie, die wir hier zur Verfügung stellen werden. Und jetzt in medias res: Erdal Ahlatci ist zweiter Geschäftsführer bei dem Berliner Videotechnologie-Anbieter MovingIMAGE24 GmbH. Vor kurzem veröffentlichte er seinen Artikel “Mitarbeiter wollen eigenverantwortlich entscheiden” bei wiwo.de. Damit setzt Ahlatci das fort, was bereits im selben Monat durch den Gründer Dr. Rainer Zugehör im Rahmen eines Interviews im personalmagazin öffentlich wurde: MovingIMAGE gehört ebenfalls zu den Unternehmen, die den MitarbeiterInnen ein mit- und teilweise selbstbestimmtes Arbeiten ermöglichen. Ein weiteres Unternehmen, dass durchaus als demokratisch beschrieben werden kann.

Durchgängig agile Unternehmensführung 

Das zentrale Element der Unternehmensdemokratie und Mitbestimmungskultur bei MovingIMAGE ist die Projekt- und Produktmanagementmethode Scrum, die vorwiegend aus der agilen Softwareentwicklung bekannt ist. Die Methode folgt dabei vor allem vier Prinzipien:

  1. “Menschen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
  2. Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation.
  3. Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als die ursprünglich formulierten Leistungsbeschreibungen.
  4. Eingehen auf Veränderungen ist wichtiger als Festhalten an einem Plan.” (Wikipedia)

Daraus wird schnell deutlich, dass der Einsatz von Scrum ein anderes Vorgehen, eine deutlich partizipativere EntscheidungsKultur erfordert, als die üblich bekannten top-down Entscheidungen. Das Besondere bei MovingIMAGE liegt nun darin, dass Scrum nicht nur in der Softwareentwicklung, sondern auch in anderen Bereichen wie Vertrieb, Marketing und der kaufmännischen Abteilung eingesetzt wird.
Genau das hat Erdal Ahlatci allgemeiner in seinem Artikel auf den Punkt gebracht: “…eine Graffiti-Wand im Eingangsbereich allein macht noch keine moderne Arbeitswelt. Vielmehr muss das Unternehmen auf Prinzipien aufgebaut sein, die auch die Mitarbeiter tragen und gestalten.” (Ahlatci 2015) Es geht den beiden Geschäftsführern also nicht um eine Art New-Work-Greenwashing, indem die üblichen Accessoires moderner IT Unternehmen wie ein Billiardtisch oder eine Rutsche in die Büroräume gestellt werden. Das Wesentliche ist eine Entwicklung der inneren Haltung und Unternehmenskultur.

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Erdal Ahlatci, 2. Geschäftsführer der MovingIMAGE24 GmbH

Folgen demokratischer Unternehmensführung

Es ist eine Entwicklung weg vom immer noch flächendeckend eingesetzten Command-and-Control hin zu eigenverantwortlichen Entscheidungen. Insbesondere talentierte Mitarbeiter wollen, so Ahlatci, “nicht einfach Befehlsempfänger sein.” (ebnd.) Stattdessen geht es darum, die eigene Arbeit selber zu organisieren, die damit verbundenen Prozesse selber zu planen und Aufgaben selber festzulegen. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit zu einem der Fallbeispiele in meinem aktuellen Buch “Alle Macht für niemand” – dort berichte ich ausführlich von einem traditionsreichen Familienunternehmen, in dem die MitarbeiterInnen sich ihre Aufgaben sogar selber aussuchen können.
Die Mit- und Selbstbestimmung zieht natürlich sofort weitere wichtige kulturelle Merkmale nach sich: Transparenz. Denn wie soll die Belegschaft selbst entscheiden, wenn relevante Informationen nicht zugänglich sind? Im Gegensatz zu vielen, wenn nicht den meisten anderen Unternehmen und Organisationen werden wichtige Informationen nicht geheim gehalten. Transparent sind dabei nicht nur die Projekte der verschiedenen Teams, sondern auch Kennziffern des Unternehmens.

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Dr. Rainer Zugehör, Gründer & Geschäftsführer der MovingIMAGE24 GmbH

Change als Herausforderung

Der Change hin zur heutigen Unternehmenskultur gingen allerdings nicht schmerzfrei von der Hand, wie Rainer Zugehör im Interview berichtet: “Im Vertrieb sind uns Leute abgesprungen. Sie haben sich in unserer neuen Struktur nicht wohl gefühlt.” (Enderle da Silva 2015: S. 25) Und dann gibt es da noch die Schwierigkeiten so mancher MitarbeiterInnen, die Verantwortung und Gestaltungsmacht anzunehmen, die sie von den Geschäftsführern angeboten bekommen. Zugehör und Ahlatci “sehen es auch als (ihre) Aufgabe, die Mitarbeiter dazu zu befähigen, sich dahin gehend weiterzuentwickeln.” (ebnd.) Und natürlich gleich von Anfang an MitarbeiterInnen einzustellen, die genau das wollen. Auch hier gibt es eine wichtige Parallele zu einem der in meinem neuen Buch beschriebenen Fällen.
Vorbildlich ist bei all der an sich schon äußerst fortschrittlichen Unternehmenskultur und – struktur, dass die Einbindung der MitarbeiterInnen nicht nur stattfindet, um wirtschaftlicher zu werden und den Gewinn zu maximieren. Dr. Rainer Zugehör stellt in dem Interview im personalmagazin klar: “Aber selbst wenn die Performance nicht in der Art steigen würde, würden wir das weiterführen – weil es einfach mehr Spaß macht.” (ebnd.)
Den Fall in voller Länge demnächst hier auf dieser Website!

Herzliche Grüße
Andreas

Quellen

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Logo movingimage, Pressematerial der Firma
  • Portrais: Pressematerial der Firma

Comments (6)

Hallo Andreas
Ich war dort letztens zum Scrum Meetup. Sehr nett. Wobei ich ihren Scaled Agile Ansatz “MISS” spontan nicht so ganz agil fand: Bei der Vorstellung fiel der Satz “natürlich sprechen die Entwicklerteams nicht direkt mit den Kunden” oder so ähnlich, was so auch auf der Organisationsgrafik zu erkennen war … Ich: “warum nicht?” … Zur Antwort sind wir aber leider nicht mehr gekommen …
Lieben Gruß/
Heiko

Hallo Heiko und Andreas,
wir hatten letztens im Meetup nur kurz die Gelegenheit einen Einblick in unsere Skalierung von Scrum zu geben, nehmen jedoch gern jede Gelegenheit zum Austausch in der agilen Community war. Leider sind wir zu deiner Frage nicht mehr gekommen. Bei uns kommt dem Product Owner jedes Teams – auch in der Skalierung von Scrum – eine wichtige Rolle in der Ermittlung und Priorisierung der Kundenanforderungen zu. In der Abstimmung aller Product Owner des Unternehmens werden Abhängigkeiten zwischen den Teams und deren Prioritäten geklärt und koordiniert. Unsere Teams sind nicht nach Kundenprojekten gegliedert, sondern sie arbeiten gemeinsam an unserer Platform. Um gezielt mit unseren Kunden kommunizieren zu können und sie so eng wie möglich in unsere Arbeitsweise einzubeziehen, sind feste Ansprechpartner wichtig und wir haben uns entschieden, dass diese Aufgabe, auch in der Skalierung, dem Product Owner zukommt. Unsere Umsetzungsteams sind jedoch nicht abgeschottet. In unseren gemeinsamen Reviews (alle zwei Wochen) und vor allem zum Review Day (alle drei Monate) sind Kunden, Partner und Familien eingeladen, um zu sehen, was in den letzten Wochen entstanden ist und sich darüber mit den Umsetzungsteams auszutauschen.
Viele Grüße
Steffi

HI Steffi,
vielen Dank für Deine Antwort auf Heikos Frage. Mir erscheint das durchweg plausibel. Mal sehen, was Heiko dazu sagt. Ich freue ich auf jeden Fall, dass damit hier eine interessante Diskussion in Gang gekommen ist.
Herzliche Grüße
Andreas

Hallo Steffi, hallo Andreas
Vielen Dank für Deine Antwort.
Ich bin mir bewusst, dass es durchaus unfair ist, anhand eines einzelnen Aspektes (und auf diesem beschränkten Kanal) scheinbar über eine gesamte Organisationsform zu sprechen …
Daher möchte ich zunächst noch einmal betonen, dass ich “sehr nett” wirklich positiv meinte – wenn man durch Eure Räume geht, kann man die Agilität sehen und spüren! Hat mich wirklich beeindruckt!
Dennoch – Andreas hatte mich gebeten und wo wir schon einmal dabei sind, versuche ich doch einfach mal, die gewünschte interessante Diskussion fortzusetzen 😉
Ich bleibe dabei in der Frageposition:
– Wenn Teams nicht festen Kundenprojekten zugeordnet sind, dafür aber die Product Owner als feste Ansprechpartner des Kunden sind, dann gibt es keine feste Zuordnung von Product Owner zu Teams bzw. die Zuordnung wechselt häufig? Macht Ihr damit gute Erfahrungen?
– Ich hatte in der Präsentation noch eine weitere Schicht zwischen Teams, Product Owner und Kunden wahrgenommen – Account Management – oder liege ich da falsch? Besteht da nicht die große Gefahr des “Stille Post”-Problems?
– Gemeine Frage: Ihr ladet Kunden zum Review/ Review Day ein – wie viele kommen denn dann auch tatsächlich? Und findet da wirklich offene Kommunikation zwischen Team und Kunde statt? Das wäre toll, allerdings leider sehr selten in dieser Konstellation …
Besten Dank und lieben Gruß/
Heiko

Mal so als fragenden Input von der Seite – wohl wissend, dass cih von SCRUm etc. nicht den Schimmer einer Ahnung habe… Der Prozess erinnert mich an den, den Ricard Sheridan in “Joy, Inc.” als das Vorgehen bei Menlo Innovations beschreibt.
Spannend bei denen ist auch der Recruiting Prozess… aber das nur nebenbei und – off topic.
Viele Grüße & vielleicht lerne ich hier ja auch etwas 🙂
Guido

Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten.

[…] gibt es aber natürlich noch weitere spannende Fallbeispiel, wie den Videotechnologieanbieter movingimage, der die agile Projekt- und Prozessmethode Scrum nicht nur zur Softwarentwicklung nutzt, sondern […]

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